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PSYCHO/023: ... und tief ist sein Schein (23) (SB)


... UND TIEF IST SEIN SCHEIN


Es war kurz vor Mitternacht, als Kaminsky Preacher wieder in die Zelle zurückbrachte. Merle musterte Preacher aufmerksam, bevor Kaminsky von draußen wieder das Licht abstellte.

"Ich dachte, Dr. Kalwin wäre krank", empfing ihn Merle. "Was macht er dann hier mitten in der Nacht? Hat das Arschloch Schlafstörungen? - Jedenfalls siehst du diesmal nicht so aus, als wenn er dich an sein Lieblingsspielzeug angeschlossen hat."

"Es stimmt, daß Dr. Kalwin krank ist", bestätigte Preacher unbeteiligt. "Er leidet unter einer Krankheit, die man Gesichtsrose nennt. Offenbar bereitet sie ihm starke Schmerzen."

"Endlich mal gute Neuigkeiten", frohlockte Merle ungeniert. "Aber was hast du damit zu tun?"

"Er hat gehofft, ich würde ihm helfen."

"Und? Hast du?" fragte Merle lauernd.

"Nein", entgegnete Preacher schlicht, was Merle ein begeistertes Kichern entlockte.

"Hättest du es denn gekonnt?" forschte Merle weiter.

"Ja, aber dann wäre er nur wieder dorthin zurückgekehrt, wo er zuvor gewesen ist. Und ich verschwende mich nicht darin, andere im Kreis zu drehen", sagte Preacher mit seiner wohlklingenden, ernsthaften Stimme und nahm mit einer anmutigen Bewegung seine übliche Sitzhaltung auf dem Bett ein.

"Hast wohl auch endlich die Schnauze voll von dem Drecksack", schlußfolgerte Merle verständnissinnig. "Nach dem, was er mit dir gemacht hat, ist es doch ein Genuß, ihn einfach leiden zu lassen, nicht wahr?"

"Sprichst du von Rache, Merle?"

"Ach komm schon, bring jetzt nicht so einen frommen Spruch über das Leid oder irgendwelche Fesseln. Was für eine andere Begründung hast du denn, ihm nicht geholfen zu haben?" Einen Moment lang klang Merles flache Stimme beinah aggressiv, doch dann fragte er mit verhaltener Neugier: "Was spricht denn gegen Rache, Preacher? Die Rache, die dich über dich selbst hinauswachsen läßt, die dich zu etwas macht, das du vorher nicht sein konntest? Hast du Schiß, dafür in die Hölle zu kommen?"

"Du kennst mich nicht, Merle, du kennst mich nicht. Es gibt Menschen, die fügen anderen Leid zu durch das, was sie tun. Zu diesen gehörst auch du, Merle. Und es gibt Menschen, die fügen anderen Leid zu durch das, was sie sind. Zu diesen gehöre ich. Weder bin ich ein Heiliger, noch jemand, der nach etwas Heilem trachtet. Vielmehr füge ich durch meine Anwesenheit allem, was wichtig erscheint, was verläßlich anmutet, was in der Welt verankert erscheint, den Schaden der Bedeutungslosigkeit, den Schaden der Zweifelhaftigkeit, den Schaden völliger Haltlosigkeit zu."

"Also doch eine Art von Rache", kommentierte Merle, der Preacher aufmerksam zugehört hatte. "Wenn sie mir auch seltsam verworren erscheint."

"Was du unter Rache verstehst, Merle, ist nichts als ein engstirniges Anhaften, ein Verfangensein in Haßgefühlen, ein Gefesseltsein in Mordgedanken. Ist es denn tatsächlich nur ein einziger Mensch, der deine Rache verdient, sind es derer nicht vielmehr drei oder fünf oder hunderte? Und sind es wirklich nur Menschen? Sind es nicht auch Hunger, Kälte und Einsamkeit, an denen du dich rächen mußt? Sind es nicht auch die Stahltüren, die dir den Weg nach draußen versperren oder ist es nicht der Himmel mit seinem falschen Versprechen von Freiheit? Wenn es einen Rachedurst gäbe, Merle, müßte er unstillbar sein. Aber selbst dann käme es mir nicht in den Sinn, mich zu rächen. Angesichts dessen, was uns die Welt der Erscheinungen jeden Tag aufs Neue antut, ist Rache zu beschränkt, ist Rache zu vergänglich, ist Rache nicht genug."

"Ich denke da offen zu bescheiden", gab Merle mit leisem Lachen zu, denn die Unversöhnlichkeit in Preachers Worten gefiel ihm über alle Maßen. "Doch es scheint mir irgendwie uferlos, wollte ich versuchen, mich gleich an der ganzen Welt zu rächen."

"Ich räche mich nicht an irgendeiner Welt, Merle. Das würde sie nur in ihrer Existenz bestätigen. Ich gebe alle erdenklichen Welten der Nichtigkeit preis, nehme ihnen das Versprechen, ein Halt zu sein, ein Ort zu sein, bis nichts mehr von ihnen übrig bleibt. Dadurch nehme ich aber all jenen, die an diesen Welten und ihren Erscheinungen anhaften wollen, sich an ihnen festhalten wollen, sie ergreifen wollen, das, was ihnen am Wichtigsten ist. Ich nehme ihnen den Halt, ich nehme ihrem Leben den Sinn."

Merle erwiderte nichts auf die Worte, sondern starrte wie gebannt in die Dunkelheit, wo er Preachers schattenhafte Silhouette nur undeutlich ausmachen konnte. Es schien, als würde Preachers Körper langsam immer dichter und schwärzer werden und einen seltsamen Sog entwickeln, der alle Gefühle und alle Gedanken absorbierte. Unwillkürlich tauchte in Merles Bewußtsein das Bild eines schwarzen Loches auf, das alle Materie verschlang, wobei es sich immer weiter ausdehnte. Doch gleich darauf war selbst diese Vorstellung erloschen. Einen kurzen Augenblick war Merle wie gelähmt von der Erkenntnis, daß alles, was ihn ausmachte, im Begriff war, in diesem Loch zu verschwinden. Dann wandte er ruckartig sein schreckensstarres Gesicht zur Wand. Und sofort war alles wieder wie zuvor.

"Scheiße, Alter", murmelte Merle noch, ehe er sich seine Decke über die Ohren zog, um sich instinktiv in einen tiefen, traumlosen Schlaf zu flüchten, "gegen das, was du da abziehst, ist meine verdammte Rache nichts als Werfen mit Sand."

(Fortsetzung folgt)


Erstveröffentlichung am 13. November 1997

26. Februar 2007