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ERZÄHLUNG/0003: Diyarbakir (SB)


Diyarbakir


Prolog

Ist diese Geschichte Wirklichkeit oder Fiktion? Mag sein, dass ein gebildeter Mensch, stolz auf seine Vernunft und mit einem Packen ehrenvoller Urkunden auf den Schultern, mit einer derart naiven, kindlichen Frage um die Ecke kommt und dabei ein Lächeln auf die Lippen zaubert, als habe er mit seinem Einwand gerade das verborgene goldene Rädchen im tackernden Weltgetriebe aufgedeckt. Bei alledem könnte seine abgrundtiefe Gleichgültigkeit gegenüber den Nöten menschlicher Existenz und Plagen des Ausgeliefertseins gar nicht deutlicher ausfallen. So in seinen Tagesgeschäften ans Vergessen gewöhnt und geschmiedet, fehlt seinem Denken schlichtweg das Ohr dafür, dass Gewalt keinen Unterschied macht zwischen echt und erfunden.

Bei aller Ernsthaftigkeit, die einer Geschichte zugrunde liegt, ist es völlig unerheblich, ob sie ein Gestern kennt oder von einer Zukunft spricht, die noch ungeboren zwischen den Zeilen herumgeistert oder vielleicht doch nur als Mahnung zu verstehen ist, was geschähe, wenn sie sich erfüllte. Zu allen Zeiten haben Geschichtenerzähler, ob mit dem Rücken gelehnt an einer maurischen Mauer, kühles Nass aus einer oasischen Wüstenquelle schöpfend oder an den wärmenden Lagerfeuern überall auf der Welt, nichts anderes versucht, als mit der Tatkraft ihrer Worte die Ungewissheit der Nacht wie auch die bleierne Schläfrigkeit von den Augen der Zuhörer zu verscheuchen. Rätselhaft wie die dunkle Seite des Mondes sind auch des Schlafes Dämmerungen.

Wovor der Mensch flieht, wenn er hinuntersteigt in Morpheus' Reich, in Worte einzufangen, macht den Herzschlag von Geschichten aus. Obgleich vom Schlaf an die Küsten furchterregender Träume geworfen, die sein Gewissen plagen mit scharfen Zähnen, sehnt ihn der Mensch doch inniglich herbei, wenn seine Lider müde sinken. Denn sein Schatten verheimlicht und verbirgt des Tages Wüten und Willkür, was in den alten Sprachen noch das Bildnis hatte eines Kessels voll schaurig-giftiger Übel und Missstände von der Art, wie Nattern sie im Schleim gebären, gewürzt mit finsterem Kraut und Ingredienzen, die ihre unheilvolle Kraft ziehen aus des Mondes bleichem Licht. So kocht und gärt der eklige Sud im Geheimen und wirft sich auf die Brut, die ihn erschaffen.

Was Hexenwerk zugeschrieben und des Teufels dunklen Pfaden schöpft aus dem, was ein Menschenhirn an Grausamkeit erdacht: den Meineid der Verleumdungen, des Verrates Wechsellaune, den gleich Krötengift Wunden schlagenden Intrigen, den schwindsüchtigen Todesreigen der Machtgelüste, den Speicheltropfen des Hasses, aus fauligem Atem geboren, und den Fesseln sinnverlorener Tabus; Geiz, vermischt mit Hinterlist und rachevollem Verderben, sucht Witwen heim und lässt Waisen hungers sterben, vom Molch entliehen ist die Wollust, die falsche Schwüre tröpfelt in die Milch unberührter Mädchen und Metzen treibt in die wüsten Umarmungen der Unzucht. Bis an den Rand sammeln sich in dem Gebräu die Blutstropfen erlittener Qualen und fortwirkender Flüche. In die Nähe des brodelnden Kessels zu kommen, auf welchem Umweg auch immer, darf eine Erzählung, will sie zur Seele des Menschen durchdringen, an Urvergessenes rühren und den Kunstgriff übertrieben orientalischer Schleier und humanistischer Gewänder weder fürchten noch vernachlässigen.

Um an den Anfang zurückzukehren: Nein, es gibt keinen Achmed Murat, obwohl in der Türkei viele Achmeds und Murats leben. Aber das spielt an dieser Stelle keine Rolle. Auch verstehe man diese Geschichte nicht falsch. Sie soll kein Aufruf sein, dass sich alle Achmeds und Murats verbrüdern, um jene fiktive Gestalt auszufüllen, um derentwillen der Autor zur Feder gegriffen hat. Nichts lag ihm ferner als Verbrüderung, kein Gedanke könnte abwegiger sein, schon deshalb, weil auch in der türkischen Gesellschaft gilt: Beseitige deinen Konkurrenten!

*

Das kalte Licht des Nachthimmels kriecht über meine Matratze wie ein Heer von Mondschnecken, kleine schimmernde Wesen, die jedoch, bevor sie mich erreichen, unversehens vergehen, als sich die große schwarze Hand der Wolken über sie legt. Und wieder hüllt mich Dunkelheit ein.

Als Kind schon waren mir Nächte immer unheimlich gewesen, wenn die Schatten in der fahlen Düsternis zitternd in Bewegung gerieten und allmählich an den Wänden entlang zerflossen zu grotesken Figuren ohne Halt und Sinn, und wie dann etwas unsagbar Unbekanntes die Maske abstreifte und, wie von einem sonderbar fremdartigen Willen angetrieben, durch die dunkelverhüllten Räume schlich, maulwurfsblind von einem Gegenstand zum anderen sich tastend, um einen Weg in mein schreckerstarrtes Herz zu suchen; und ich fühlte es kommen wie greifende Arme aus dem Nichts, von überall her, versteckt, behaart, beängstigend - wie viel mehr jetzt, wo das Furchteinflößende ein Gesicht bekommen hat, das Antlitz einer Gefängniszelle, vier Schritte in der Länge und etwas mehr als zwei in der Breite.

Ein Drahtgestell in der Ecke der hinteren Wand, ein Kübel für meine Notdurft und Mauern aus Stein, die mir in den letzten Monaten vertrauter geworden sind als die Seelen meiner Wärter und Peiniger, all das verschwindet aus meinem Blick, taucht ein in eine mitleidlose Schwärze. Ich sitze zusammengekauert in einer Wandnische und warte darauf, dass wenigstens die Wolkenmauer am Himmel zusammenfällt, auf dass ein bisschen Licht vom winterlichen Mondschein zu mir hindurchsickert.

In Diyarbakir ist immer Nacht, eine endlose, mit Gittern zusammengehaltene Nacht, 24 Stunden lang, und dann noch einmal im Kreise sich schließend in der ewigen Nacht der Seele. Wenn ich jetzt den Kopf ein wenig hebe, höre ich halblaute Geräusche, die in Mauerritzen lauern, und die Luft ist durchwispert von Stöhnen und tiefer Verzweiflung.

Es gibt einen Punkt in der langen Kette des Duldens, wo man aufhört, seine Peiniger zu hassen. Derart verloren ohne die Aussicht auf Rettung und Linderung bleibt nichts anderes zurück in diesem lebenden Tuch, in den Falten des Schmerzes, als unstillbare Wunden, und könnten Wunden hier jemals ausheilen, um einen unauslöschlichen Hass zu gebären?

Von Gefangenen heißt es, dass sie viel träumen von den Liebsten, die nur noch in den Gedanken ein schattenhaftes Dasein führen, vom Duft der Freiheit, deren Geschmack sie vergessen haben, dass Honigreiche von Träumen ihre letzte Zuflucht seien. Aber in Diyarbakir gibt es keinen Raum für Träume, keine verborgene Quelle, aus der man Mut und Kraft schöpfen könnte. Die Tage sind nur die Fortsetzung der Qualen in einer Wüste der Unentrinnbarkeit. Nein, ich träume schon lange nicht mehr.

Aufgeheizte Luft lässt einen Ballon in die Höhe steigen, um sich einen weiten Himmel zur Heimat zu machen, ein Traum aber, der im Herzen schweigt, wird zum engsten aller Räume. Der Charakter eines Menschen zeigt sich darin, wie er mit seinem Leiden umgeht, aber ohne die Spanne einer Möglichkeit, die erlauben würde, das Weinen der Wunden zu trösten, hört man auf, ein Mensch zu sein. Wie gesagt, hier in diesen Gefängnismauern überleben keine Träume. Sie sind das erste, was vom Leib der Gefangenen abstirbt.

Ich werde dieses Geviert aus Steinen und Gitterstäben und dem abweisend kalten Stahl der Tür nicht mehr verlassen, um auf Frühlingswiesen unbekümmert zu wandern, den Vögeln in den grünen Wipfeln der Bäume zu lauschen, wenn ihr Gesang die Luft seelenvoll versüßt, oder den Mädchen verschämt nachzuschauen, wenn sie ihr Kopftuch ein wenig lüften und mir ein vieldeutiges Lächeln zuwerfen. Für mich, der ich ein Gefangener bin im steinernen Herzen von Diyarbakir, hat der Kuss der Morgenröte jede Bedeutung verloren.

Mein Verbrechen war die Menschlichkeit, und dass ich sie nicht bereut habe, mit keiner Geste, keinem Wort, dass ich auch dann zu meiner Tat stand, als meine Richter, Menschen meines Blutes und meiner Sprache, mit denen ich womöglich früher auf einem Fest gelacht und getanzt hätte, ein Zeichen der Bußfertigkeit von mir verlangten.

Selbst wenn mich die Zaubermacht eines Dschinns ein zweites Mal vor die gleiche Wahl stellte und mich die Konsequenzen meiner Tat im Vorwege überdenken ließe, auf dass ich, zur Besonnenheit gereift, davon Abstand nähme und mich so mit einem Schlag befreien könnte von meinem jetzigen Schicksal, ich würde erneut tun, was ich getan habe. Wie kann ich widerrufen, was ich im vollen Besitz der Urteilskraft meiner 19 Jahre getan habe, wie kann ich etwas leugnen, von dem ich überzeugt bin, dass es das einzig Richtige für mich war?

Ja, ich habe einen Menschen getötet und würde es wieder tun. Aber es war kein Mord, wie sie behaupten. Vor meinem Gewissen kann nur ich selbst Richter sein, aber ich habe nichts getan, wofür ich mich schämen müsste.

Da! Die Wölfe kommen. Ich höre das Klappern von Schlagstöcken gegen kalte Mauerwände, es ist ein unerbittlicher Wirbel aus Holz und harten Menschenherzen. Aus dem gleichförmigen Takt spricht die Drohung nahenden Schmerzes, aber ich kenne sie und weiß, dass sie heute Abend nicht zu mir kommen werden, um meinen Knochen Qualen zu entreißen. Das dumpfe Tönen der Stiefel auf den Gängen kommt zu rasch. Sie werden an meiner Zelle vorbeigehen. Erst vorgestern haben mich ihre Hiebe in die Ohnmacht geprügelt. Mein Fleisch ist noch jetzt ein einziger Brand aus schwarzem Eiterfluss.

Ja, ich kenne ihre Schritte. Das Hastige darin verrät sie. Sie wollen die Erinnerung in meinen Wunden wachrufen, meine Angst von neuem in den Taumel einer Panik stürzen. Sie lieben es, aus Menschen furchtsame Tiere zu machen, deswegen klappern sie mutwillig mit ihren Stöcken an den Mauern entlang.

Jetzt verlangsamen sie ihre Schritte, aber es ist keine Genugtuung in ihnen. Ihr Klang hat etwas Vorübergehendes. Wir Gefangenen lernen sehr schnell, auf solche Kleinigkeiten zu achten. Heute Nacht werde ich verschont bleiben, und da, ich habe mich nicht geirrt. Das Echo ihrer Schritte an den gekachelten Wänden trägt sie von mir fort.

Ich zähle die Schritte, zehn, elf, zwölf ...

Bei 41 höre ich auf. Sie sind stehengeblieben, und im Geiste sehe ich die vorletzte Tür im Gang. Es ist Alis Zelle. O diese Hunde! Ali, der Rabenschwarze, der von ihnen erst gestern Abend in die Hölle geworfen wurde und dessen Wehklagen mich über Stunden bis in den entlegensten Schlaf verfolgt hat. Ali, dessen Vergehen das Aussprechen dreier winziger Worte war - "ich bin Kurde" - und der nun dafür bestraft und gefoltert wird, dass er die Mutter, die ihn gebar, nicht verleugnete, und den Vater nicht fluchte, dessen Lenden ihn gezeugt hatten. Morgen soll er entlassen werden, aber zuvor wollen sie ihm noch ein Andenken mitgeben.

Das Schloss springt auf und mein Herz droht für einen Augenblick stillzustehen.

Kann ein Mensch sich denn die Augen aus dem Kopf reißen, seine Zunge hinunterschlucken, seinen Namen in den Dreck treten und sagen, ich bin ein anderer als der, der aus dem Spiegel zurückblickt?

Es gibt Sünden, die selbst der Teufel vergibt, aber nicht diese Wärter. Ihre Hände haben das Mitgefühl verlernt. Es sind Väter von Kindern, die nun ein Kind windelweich schlagen, denn Ali ist erst zwölf Jahre alt. Seine Schreie durchdringen den härtesten Stein und sind das Letzte, was ich höre, ehe ich in einen bleiernen Schlaf hinüberdämmere. Alltag in Diyarbakir ...

Die Sonne geht auf, steigt aus den morgendlichen Nebeln empor. Ich weiß nicht, ob heute Dienstag oder Mittwoch ist. Aber welchen Sinn hätte es auch, die Tage in der Hölle zu zählen.

Irgend jemand hat einmal gesagt, dass jeder für sich die Stöße von Weh und Leid zu tragen habe, dass sich Hände niemals berühren könnten und ein Herzschlag den des anderen nicht kennt. Aber nur jemand, dessen Haut zu einer Wüste geworden ist, einer, der nur dem Anschein nach noch ein Mensch ist, im Inneren jedoch eine Larve ausbrütet, die ihn mit dem bösartigsten Insekt verwandt macht, kann einen solchen Irrtum zum Schicksal erheben.

Hört es sich nicht seltsam an, dass ausgerechnet der Mund von einem, der eben noch zugegeben hat, einen Menschen getötet zu haben, dieses sagt? Aber meine Treue gehört keinem politischen Ideal. Schmerz ist nicht teilbar, das hat dieser Mensch, der ich bin, Achmed Murat, in seinem Leben gelernt. Und nichts anderes gibt es auf Erden zu lernen.

Auf dieser Welt kommt für jeden einmal der unausweichliche Zeitpunkt, an dem er sich für einen Weg entscheidet. Mag die Gewalt, die einen Menschen verunstaltet bis in die kleinste Blutbahn hinein, noch so groß und unüberwindlich erscheinen, wer leugnet, dass wir alle die Kinder einer Mutter sind, begeht einen Verrat der schlimmsten Art.

Diyarbakir, die Stadt am ewig blauen Tigris, ist meine Heimat. Hier bin ich vor 19 Jahren geboren worden als Sohn türkischer Eltern. Ja, ich bin ein Türke, aber bevor ich ein Türke wurde, war ich etwas anderes. Ich kam mit einem Nabel auf die Welt, der mich mit allen Menschen verwandt macht. Auch ein Kurde ist mein Bruder, obschon die Staatsgewalt behauptet, dass es keine Kurden in diesem Land gibt, und ich habe Schwestern mit heller und dunkler Haut und blonden, brünetten und schwarzen Haaren.

Diyarbakir ist ein Ort vieler Kulturen. Mongolenstämmige mit schrägstehenden Augen, Kurden, Türken, Juden und Menschen mit orientalischem Einschlag bevölkern die Stadt; ein bunter Flickenteppich ist dieser Staat der Türken von Istanbul bis an die Schneegipfel des Ararat.

Ich will aus meiner Kindheit erzählen, um meine Erinnerungen ein letztes Mal wachzurufen, ehe ich sie für immer begrabe.

*

Als ich noch ein Junge war, da fasste ich eine besondere Zuneigung zu Onkel Sabahattin, der im Kurdenviertel wohnte und ein Mann von einfühlsamem Wesen war. Ich war gern in seinem Haus und lernte so die verschwiegene Seite des Vorurteils kennen. Denn es hieß auch in meiner Familie, dass Kurden böswillige Teufel seien, Halunken und Taugenichtse. Auch jetzt noch nach so vielen Jahren erinnere ich mich sehr genau an das erste Zusammentreffen mit ihm, so, als blickten meine Augen wie durch einen hellerleuchteten Korridor in die Vergangenheit zurück.

Ziellos war ich über den Basar geschlendert, links und rechts die händefuchtelnden Reden der Schmuck- und Tuchhändler, der Aprikosen- und Süßspeisenverkäufer. Gerüche wie vom Himmel und Lärm aus der Hölle, alles verschmolz zu einem schwindelerregenden Traum für diesen Jungen, der ich war mit seinen sechs Jahren.

Ich ging vorbei an runden, watschelnden Müttern, die mit beringten Fingern stumme Gesten vollführten, die Lippen vor- und zurückschnellend, so handelten sie den Preis für die Waren aus, während eine wolkenlose Sonne ihre Glut in die Häuserschluchten aus Lehm und Ziegeln sandte. Hier und da sah ich ein ärgerliches Hochziehen der Augenbrauen, dort eine schweißnasse Stirn im Grübeln und Nachrechnen, und Witze und listige Komplimente schnappte ich auf, ohne sie recht verstehen zu können.

Elende Hunde jagten nach Bissen, die von den Verkaufstischen heruntergefallen waren, Katzen mit räudigem Fell lagen faul in der Sonnenglut. Die Gesichter eng beieinander stritten ein Verkäufer und ein hohlwangiger Mann um den Preis einer Silberkaraffe. Sie standen so dicht, dass sich ihre Schnauzbärte fast schon berührten.

Unter einem Zeltdach griff ein älterer Herr mit ergrauten Haaren und einer schmalen silbernen Brille auf der Nase aus einem hügelartig aufgestapelten Haufen von Melonen eine heraus. Ich blieb stehen und sah zu, wie er die gelblich-grüne Schale an sein Ohr hielt und mit Zeige- und mittlerem Finger einen Trommelwirbel ertönen ließ, immer wieder von kleineren Pausen unterbrochen. Dann nahm er die Melone herunter und schimpfte zum Verkäufer in weiten Pluderhosen hinüber: "Willst du Schweine damit füttern?"

Der andere, um etliche Jahre jünger, näherte sich rasch auf flinken Füßen und erwiderte mit hörbarem Respekt in der Stimme: "Großvater, du wirst kein Feld in ganz Anatolien finden, auf dem süßere, saftigere, vollmundigere Melonen wachsen. Beschäme mich nicht, dass ich mit Kleingeld zu meiner Frau zurückkehre." Und er machte ein Gesicht wie der zerknirschteste aller Ehemänner auf der ganzen Welt.

"Ha! Ist sie auch so süß und saftig wie deine Melonen? Da, nimm dies Geld und sei zufrieden."

Ich ging weiter. Nach einer Weile bemerkte ich, dass ein Hund hinter mir herlief mit einer bis zum Boden bettelnden Zunge, der war hüftlahm und schon sehr alt, struppig sein Fell und ganz verfilzt vom Schmutz der Gosse. Aber seine Augen schwammen in einem See aus flüssigem Bernstein, wie er so zu mir heraufschaute, während ich an meiner Brezel knabberte. Ich brach ein Stück ab und ließ es fallen.

So lief ich den halben Vormittag durch den Basar, kreuz und quer, hin und zurück, sah Fischhändler Fliegen verscheuchen und Limonadenverkäufer laut nach Kunden rufen.

Irgendwie musste ich schließlich in eine Gasse geraten sein, in der nur die Stille wohnte. Kein Mensch war auf der Straße zu sehen, die völlig verschmutzt war und fürchterlich stank. Schmieriges, gelbliches Wasser lief den Rinnstein herunter.

Unwillkürlich blieb ich stehen und blickte zu den Fensterscheiben hoch, die trübe glotzten. Der Putz der Häuser war von Pilzbefall befleckt, und von den klapprigen Holztüren blätterte die Deckfarbe ab. Selbst die Katzen sahen hier erbärmlicher aus.

Vorsichtig trat ich einen Schritt zurück. Ich wollte nur noch raus aus dieser elenden Kulisse. Nach zwei weiteren Schritten stieß ich gegen ein Hindernis, und mein Herz schlug wild. Beim Umdrehen stand ich vor einem hochgewachsenen Mann, dessen Bart über den Lippen schwarz wie Schuhcreme glänzte.

"Onkel, was ist das für eine Straße?" fragte ich mit dem scheuen Ton meiner kindlichen Stimme.

Eine helle, freundliche Farbe trat auf seine Gesichtszüge, und aus seinen Augen blickte mich ein warmer Sonnentag an. "Hier wohnen jene, die man vergessen hat, mein Kleiner, Menschen, die zu arm sind, um sich eine Olive zu kaufen. Auf Anordnung der Stadt dürfen sie ihre Häuser nur nach Sonnenuntergang verlassen, um in die Moschee beten zu gehen, wo sie ein Stück Brot erhalten und eine dünne Suppe schlürfen können. So bleibt die Stadt sauber vom Bettlerpack, wie die hohen Herren sie verächtlich nennen; niemand sieht sie tagsüber und die Nacht hat keine Augen. Fürchtest du dich?"

Ich schüttelte den Kopf, sagte aber: "Ja, es ist hier so still."

"Hunger hat eine dünne Stimme. Du brauchst dich aber nicht zu fürchten. Komm, gehen wir zusammen durch die Gasse. Nimm meine Hand."

So lernte ich Onkel Sabahattin kennen und schätzen als einen Mann von geradem Wuchs. Und noch vieles andere habe ich von ihm über die Jahre von der Welt und den Menschen erfahren.

Einmal sah ich, als ich unter einer hohen Pappel Murmeln spielte, wie ein junger Türke Onkel Sabahattin stieß, als dieser eine Teestube betreten wollte. Ibrahim, so hieß der ungehobelte Kerl, war groß und von drahtigem Aussehen. Sein Haar war kurzgeschoren und er trug Pantalons, wie die Europäer es tun. Dieser Lümmel stieß also Onkel Sabahattin zurück und versperrte mit gekreuzten Armen den Eingang zur Teestube. Die Lippen stolz zurückgeworfen, sagte er: "So einer wie du hat hier nichts zu suchen. Nimm deine Drecksseele und verschwinde, krummbeiniger Kurde." Und einige der Umstehenden lächelten böse dazu.

Es stimmt, Onkel Sabahattin hatte krumme Beine, aber seine Seele war aus Gold. Wäre ich älter gewesen und nicht so klein wie ein Kürbiskern, o Allah, mit einem Knüppel in der Hand hätte ich diesem Burschen Manieren beigebracht. So aber blieb ich unter dem Baum stehen, und die Murmeln kullerten aus meinen Händen.

Onkel Sabahattin, der in Begleitung eines kurdischen Freundes gekommen war, wandte sich dem jungen Türken zu und erwiderte mit weicher Stimme: "Was habe ich dir getan, mein Bruder, dass du mich schlägst?"

"Bin ich der Bruder eines Hundes? Fort, fort mit dir, in dieser Teestube dürfen nur Türken trinken." Und wieder pflichteten ihm einige mit einem Kopfnicken bei.

"Sag, bist du ein frommer Musliman?" fragte Onkel Sabahattin mit festem Blick auf sein Gegenüber.

"Zweifelst du etwa an meiner Religion?" entgegnete Ibrahim, und seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen.

"Du bist also gottesfürchtig", sagte Onkel Sabahattin ruhig und gelassen. "Gut, dann frage ich dich: War Adam der erste, den Allah erschuf? War er es?"

"Aus roter Erde, was fragst du so albern, Kurde?" zischte Ibrahim verächtlich.

Onkel Sabahattin nickte kurz. "Wenn also Adam dein Ahnherr ist, so sage mir, ob Allah ihn als Türken erschuf, und leugne ab, dass Mohammed, unser aller Prophet, die süßeste Stimme Gottes, ein Araber war. Tu es, und ich werde nie wieder in diese Teestube gehen!"

Ibrahim schwieg verbissen, und die Gesichter der anderen wurden rot vor Scham wie reife Mohnblumen an den Berghängen.

"Also war Adam der erste Mensch auf Erden", bestätigte Onkel Sabahattin weihevoll, "und alle, die von ihm herkamen, Türken, Kurden, Araber oder Armenier, waren seine Kinder, und im Lichte dieser Wahrheit bist du mein Bruder." Hier unterbrach Onkel Sabahattin seine Rede für einen Moment, und nachdem er mit der Hand einen Bogen beschrieb, der die unter dem Terrassendach Sitzenden miteinbezog, fuhr er beredt fort, "Ihr alle seid meine Brüder, das ist die Religion Allahs, wie sie der Koran lehrt. Wer dieser Lehre zuwiderhandelt, gehört zum Gewürm des Teufels, der Zwietracht sät und Allahs Rivale ist unter den Menschen, denn er sagt, töte deinen Bruder, weil ich es dir befehle."

Und plötzlich zerriss Onkel Sabahattin sein Hemd und streckte seine entblößte Brust dem jungen Türken entgegen. Und mit silberheller Stimme rief er: "Dann nimm dein Messer und stich zu. Stich zu, stich zu und töte deinen Bruder, wie Kain an Abel tat, als er Allahs heiligstes Wort brach."

Ibrahim war leichenblass geworden. Seine Lippen zuckten nervös. Die Leute um ihn herum wichen vor ihm zurück, als fürchteten sie die Ansteckung mit einer bösartigen Krankheit.

In diesem Moment trat ein Mann im verschlissenen Jackett mit grauen Bartstoppeln im Gesicht von drinnen durch die Tür. "Bist du noch gescheit, du Zuhälter! Mach, dass du fortkommst. Spiel woanders den großen Herrn Staatsminister. Wenn ich dich hier noch einmal sehe, mache ich aus deinen Ohren Eselsohren!"

Und Ibrahim stob mit zusammengesunkenen Schultern davon.

"Und ihr", der Blick des Stoppelbärtigen, der, wie ich später erfuhr, der Besitzer der Teestube war, heftete sich auf die Runde der heimlichen Verschwörer, "schämt euch. Glaubt ihr etwa, dass es mehr Brot und Gerechtigkeit geben wird, wenn man einzelne Körner unter den Mühlstein wirft? Verzeih, verehrter Sabahattin, dass du vor meiner Tür Schimpf und Schande erleiden musstest. Trete ein in Frieden."

So lernte ich an diesem Tag, dass Hass immer Opfer fordert, wenn alle anderen schweigen und tatenlos zusehen und man selber den Kopf beugt vor der Gefahr.

Am eindrücklichsten hat sich in meinem Gedächtnis das Gespräch erhalten, dass Onkel Sabahattin unter dem Birkenbaum im Garten seines Hauses mit mir führte. Es war Spätsommer und der Flieder hing schon verwelkt von den hohen Büschen, in der Luft lag der schwere Duft von Rosen. Ich hatte Onkel Sabahattin gefragt, warum Menschen sterben müssen. Seine Antwort verwirrte mich.

"Das Gras hat ein Leben, der Wind eine Seele, und auch das Wasser hat seine Sorgen, glaube mir, Achmed, auf dieser Welt gibt es nichts Totes."

"Aber die, die tot sind", warf ich ein, "die tief in der Friedhofserde begraben liegen, was ist mit ihnen?"

Langsam seine Pfeife an die Lippen führend, blickte er mir unsäglich tief in die Augen, und ein Schauder ging durch mich hindurch wie ein brennender Öltropfen. Wie klein war doch die Welt und nichtig in ihrer Schattenhaftigkeit, wenn ein Mensch die Seele eines anderen berührte. Als er den Rauch in die Luft stieß, sann er kurz nach und erwiderte:

"Sie sind mitten unter uns, aber man muss feine Augen haben, um sie zu sehen. Ihre Gedanken sind aus Dunkelheit gemacht, wann immer es Nacht wird, kommen sie auf die Erde zurück."

Seine Worte blieben mir, so sehr ich mich auch sie zu verstehen bemühte, fern und unzugänglich, was er bemerkt haben musste, denn er änderte den Ton seiner Stimme ins Flüsternde. Auf diese Weise näherte er sich mir auf einem anderen Weg.

"Was wir am meisten fürchten, wenn wir an den Tod denken, kommt daher, dass wir uns ins Licht verirrt haben. Und das Licht scheidet, das Licht war der erste Unterschied. Du fürchtest zutiefst nicht wirklich die Dunkelheit, sondern nur den Verlust ebendieses verräterischen Lichtes."

Meine Seele lauschte seinen Worten hingebungsvoll und rang darum, ihre tiefere, geheime Bedeutung zu erfassen, aber es gelang mir abermals nicht. Da neigte Onkel Sabahattin den Kopf schräg zur Seite, wie es ein Habicht tut, bevor er von einem Ast zur Beutejagd abhebt.

"Weißt du noch, damals in der Gasse, als wir uns das erste Mal begegneten, war es nicht die Stille, vor der du dich geängstigt hast?"

Ich nickte.

"Du hattest den Lärm vom Basar noch in den Ohren, das Spiel mit der Geselligkeit verwirrte dich, indem es dir Geborgenheit vortäuschte. Und so, wie du vor der Stille zurückgewichen bist, bedarf es eines Menschen, der einen führt, der die Stille überwunden und die Furcht in ihr Gegenteil verkehrt hat. Und dieser Führer muss nicht notwendig ein Mensch sein, aber das wirst du jetzt nicht verstehen können. Wir sind alles Wanderer zurück in die Dunkelheit, und Stille ist das erste Tor."

Er nahm einen weiteren Zug aus der Pfeife. Süßer Rauch wirbelte empor in einem dünnen Kräuseln. In meinem Kopf jedoch summte ein wilder Bienenschwarm. Hatte ich ihn richtig verstanden, brachte der Tod die Erlösung, lag in der Gruft das eingelöste Versprechen? War es dann nicht das Einfachste, sich selbst das Leben zu nehmen, um zu jener Dunkelheit zurückzugelangen? Also fragte ich ihn.

Onkel Sabahattin schüttelte ungläubig den Kopf. "Achmed, was redest du da! Wer sich das Leben nimmt, verbrennt im Licht der Sonne, doch schlimmer ergeht es jenen, die, noch lebend, ihre Menschlichkeit verlieren, weil sie nach ihrem Tode an die Tiefe des Grabes für immer gebunden bleiben. Wie Kinder, die den Traum ihrer Herkunft umpflügen und unter harter Erde nur Steine und Tränen finden und so in ihrer Verzweiflung vergessen, was der Sinn ihrer Suche war, und mit den Steinen schließlich ihre Häuser bauen. So verblasst der Traum von der Menschlichkeit, der überall zu greifen ist, sofern man seiner Sache treu bleibt und das Kleid, das der kostümierte Affe trägt, nicht mit dem Menschen verwechselt. Menschlichkeit, mein kleiner Achmed, höre genau zu, ist ein anderes Wort für das, worauf man unter keinen Umständen zu verzichten bereit ist. Der Spiegel hat keine Seele, aber er fängt sie ein. Sei also wachsam, damit du dich nicht an das glänzende Versprechen verlierst. Es gibt dann für dich kein Zurück."

In meine Erinnerung stiehlt sich nun ein Schmerz und ein trauriger Schatten. Kurz vor meinem 16. Geburtstag nahm mir die Welt den liebenswertesten Menschen, der mir je begegnet war und dem ich mehr verdanke als meinen Eltern, die mich auf die Welt gebracht hatten. Das Leben in Diyarbakir war ärmer geworden mit seinem Fortgehen.

*

Die Jahre bis zu meinem Militärdienst waren wie Schlafengehen und Erwachen. Sie gingen im Fluge vorbei. Ein Soldat sollte ich also werden, der die Heimat, in der er lebt, verteidigt. Doch gegen wen?

Hauptmann Mustafa hatte eine Antwort darauf. Und Hauptmann Mustafa war ein harter Mann. Er trug einen wilden, ungepflegten Schnauzbart über breiten Lippen, flink wie Wiesel blickten seine grauen Augen. Unter uns Rekruten gaben wir ihm den Spitznamen 'Backpfeife'. Und das hatte folgenden Grund: Wenn er einem nämlich eine schallende Ohrfeige gab, dass die Glocken des Himmels in den Ohren widertönten, dann sagte er: "Trage es mit Stolz, du Hurensohn und Bastard, denn ich beginne dich langsam zu mögen." Gab er einem aber zwei Ohrfeigen, dann knurrte er zwischen den Zähnen hervor: "Kerl, verscherze dir meine Freundschaft nicht!"

Die anderen, die nicht sein Wohlwollen genossen, kamen in den Bau, ein schmutziges Verlies, das selbst Ratten mieden, und das keine Fensteröffnung besaß, mit Blech ausgekleidet war, am Tage vor Hitze kochte und in der Nacht zu einem Grab der Kälte wurde. Und Hauptmann Mustafa erteilte den Ungehorsamen seine Lektionen, wenn er sie zwischendurch aufsuchte und mit schweren Stiefeltritten ihren Unwillen brach. Ganz besonders Widerspenstige mussten diese Tortur bis zu einer Woche erleiden. Aber ich habe keinen gesehen, der nach dieser Behandlung Hauptmann Mustafa nicht überallhin geküsst hätte.

Stundenlanges Marschieren unter glühender Sonne, das Singen der Nationalhymne mit lauter wiehernder Stimme, und immer wieder Kontrollen, Kontrollen, Kontrollen - ich ertrug das Ganze wie jeder andere mit Gleichmut gegenüber den Schmerzen. Der Körper wurde hart gemacht, der Wille gefügig, und doch glaubte ich, meine Menschlichkeit nicht verlieren zu können. Einen letzten Rest meiner Selbst bewahrte ich im heimlichsten meiner Gedanken, dort, wo kein Hieb, keine Schikane, kein blutiges Messer der Verächtlichkeit hingelangen konnte. Ich sollte erst später erfahren, dass diese kleine Insel der Selbstbehauptung zum soldatischen Erziehungssystem dazu gehörte, ohne die es nicht auskommen konnte. Die Seele sollte nicht gebrochen, sondern vollkommen ersetzt werden durch blinden Gehorsam.

Und jeder Soldat wurde auf die eine oder andere Weise auf diese Gefolgschaft hin geprüft, nicht wissentlich, nicht willentlich, sondern durch das, was er tat und zu tun bereit war. Auch für mich kam der Tag dieser Prüfung.

Eines Nachts weckte mich Hauptmann Mustafa brutal aus dem Schlaf. Ich spürte einen brennenden Druck auf meiner Wange, als ich den Schlaf aus den Augen wegblinzelte. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass ich erst eine Stunde gelegen hatte.

Hauptmann Mustafas Stimme trieb mich an. In Sekundenschnelle war ich angezogen und stand stramm vor ihm. Die anderen schliefen noch oder regten sich unruhig unter ihren Decken.

"Komm mit mir, ich will sehen, aus welchem Eisen du gemacht bist."

Ich saß hinten im Jeep mit fünf anderen, die ich nur vom Sehen her kannte. Ein Lastwagen mit weiteren Soldaten folgte uns durch die Nacht. Wie erdverwachsene Blitze zuckten die Scheinwerfer über Büsche und trockene Flussbetten hinweg. Holpernd fuhr der Jeep über Straßen, die in Steinwege einmündeten. Kahle gespenstische Bäume wirbelten an meinem Blickfeld vorbei.

Auf hundert Füßen rannten die Gedanken durch meinen Kopf. Ich fragte den neben mir Sitzenden nach dem Zweck der nächtlichen Unternehmung. Er lächelte dreckig und sagte, wir würden Jagd auf kurdische Terroristen machen, und dass ich als Ersatzmann mitgekommen sei für einen tapfer Gefallenen bei einem Gebirgsgefecht.

Die Räder rollten einen Hügel hinauf. Ich musste mich festhalten. Schweiß trat mir auf die Stirn und meine Blicke wurden fahrig. Die anderen lächelten immer dreister.

Die Fahrt dehnte sich durch die Nacht. Eine Ewigkeit, wie mir schien. Ich warf ein Auge auf die Uhr meines Nachbarn. Zwei Stunden waren wir schon unterwegs, und der Stolperweg, auf dem wir fuhren, wurde immer steiler. Abhänge stürzten im grellen Licht in die Tiefe und verschwanden dann in der Schwärze. Wild pochte das Blut in meinen Schläfen.

Wir glitten in eine Senke hinab. Ich sah aufblitzende Steine und schwachen Grasbewuchs. Irgendetwas flatterte in der Dunkelheit und wurde vom Motorengeräusch verschluckt. Einmal hielt der Jeep an und Hauptmann Mustafa stieg aus, ging zum Laster hinüber und sprach mit dem Fahrer. Dann fuhren wir weiter.

Nach ungefähr einer halben Stunde beschleunigte der Jeep. Der Weg unter den Rädern wurde ebener. Eine spürbare Spannung ergriff von den anderen Besitz, ihre Gesichter glichen mit Frost überzogenen Steinen, ausdruckslos, kalt, die Hände pressten sich um die Gewehrläufe.

Wir hielten an. Ein Dorf, irgendwo in den Bergen, vielleicht zwanzig oder mehr Häuser, die Dächer flach und mit dünnen Grashalmen bewachsen. Ein Hund schlug an, dann mehrere. Ihr Gebell hallte von den Felsen ringsherum wider. Hier und da sah ich Lichter aufglitzern hinter den verhangenen Fensterscheiben. Unruhe mischte sich in den Schlaf des Dorfes.

Ein brüllender Kommandoton und wir schwärmten aus. Hauptmann Mustafa packte mich am Arm und hielt mich zurück. Seine ins Unmenschliche verzerrte Stimme jagte hinter den anderen her. "Bringt alle Männer hierher, ohne Ausnahme, und jedes Kind ab vierzehn. Ich will dieses dreckige Nest von Terroristen reinigen. Wer sich wehrt, wird erschossen, beeilt euch!"

Die Türen mit Stiefeln eintretend, drangen sie in die Häuser. Ich hörte Schreie, Schmerzenslaute und das Klirren von Gegenständen, die zerbrachen. Schon wurden die ersten Männer herausgezerrt, in Schlafanzügen oder mit nackten Oberkörpern, manche mit blutverschmierten Gesichtern.

Ein lautes Jammern tönte aus den aufgebrochenen Häusern, und Frauen erschienen in den Türöffnungen, die Finger vors Gesicht gepresst, schluchzend, den Namen des Allmächtigen ausrufend, ein Flehen, das von der Kälte im Herzen der Eindringlinge zurückgewiesen wurde. Ich sah auch, wie sich manche von ihnen an ihre Männer klammerten, als könnten sie so den Abtransport verhindern. Mit rüden Schlägen trennte man sie voneinander, und ihr Geschrei erhellte wie ein Feuer tiefster Verzweiflung die Nacht.

Hauptmann Mustafa wandte sich zu mir um. In seinen Augen glomm erbarmungslose Freude. "So muss man mit dem Pack umgehen und nicht anders. Komm mit!", und er zog seine Pistole heraus und marschierte auf ein Haus zu.

Mit der Schulter rammte er die Tür ein. Drinnen war alles still bis auf ein unterdrücktes Weinen. Hauptmann Mustafa leuchtete mit einer Taschenlampe hinein.

"He, Kerl, mach die Öllampe an."

Ich tat es und mir zitterten Knie und Hände. Das Licht hob eine ärmliche Behausung aus dem Dunkel hervor.

Dann sahen wir die Frau, hinter dem Sofa zusammengekauert, und ihre Glieder bebten vor Angst. Sie war noch jung, vielleicht in meinem Alter, ihr Gesicht von Tränen verquollen.

"Wo ist dein Mann?" brüllte sie Hauptmann Mustafa an.

Sie schien ihn nicht verstanden zu haben, duckte sich jedoch, als wollte man sie schlagen.

"Rede, Weib, wo ist dein Mann?"

Ihre Stimme war wie Wasser dünn, kaum zu vernehmen im Lärm, der von draußen hereindrang. "Im Gefängnis."

"Komm her!" Hauptmann Mustafas Stimme klatschte durch den Raum wie ein Peitschenhieb.

Sie zögerte, schüttelte wie verwirrt den Kopf.

"Wird's bald! Ich will es nicht ein zweites Mal befehlen."

Sie näherte sich mit deutlich erkennbarem Schrecken auf ihrem Gesicht. Auf Armeslänge blieb sie vor ihm stehen. Sie war zierlich gebaut, einen Kopf kleiner als Hauptmann Mustafa, und ihre Finger waren so ineinander verkrallt, als müssten sie jeden Augenblick zu bluten anfangen.

Dann, so schnell, dass ich die Bewegung nicht hatte kommen sehen, schlug er zu, mit dem Pistolengriff mitten in ihr Gesicht. Mit einem Aufschrei fiel sie zu Boden, und schrie noch einmal auf, als er sie an den Haaren packte und brutal auf das Sofa zerrte. Wie mit gierigen Spinnenfingern riss er ihr die Pluderhose von den Beinen und warf sich über sie. Mit herunterhängender Hose, der nackte behaarte Hintern auf und ab hüpfend, trieb er den Säbel zwischen seinen Beinen hart in ihren Schoß, immer wieder und wieder, als wollte er sie pfählen. "Dreckige Kurdenhure", stieß er hassverzerrt hervor, "dreckige Kurdenhure". Als sie zu jammern anfing, schlug er sie nochmals, bis sie keinen Ton mehr von sich ab.

Ich stand wie erstarrt, zu erschrocken, um das Grässliche ihrer Schändung zu begreifen. Es war, als ob ich entzweigerissen wurde, als ob das Geschehen vor meinen Augen einem entsetzlichen, dunklen, nicht wirklichen Alptraum entsprang, dass ich bald schon erwachen würde mit einem Seufzer der Erleichterung. Ob mein Mund schwieg oder vor Elend schrie, weiß ich nicht mehr. Seine Stimme riss mich jedoch in das Grauen der Wahrheit zurück.

"Gräme dich nicht, Achmed", grinste er zu mir herüber, "wenn ich mit ihr fertig bin, kommst du an die Reihe". Der Anblick seiner verzerrten Fratze fraß sich in meine Seele wie ein glühender Dorn. Dann verdrehten sich seine Augen und sein Atem wechselte in ein wildes Keuchen.

Marionettenhaft wie an den Fäden eines leibhaftigen Dämons setzte ich mich in Bewegung, Schritt auf Schritt, taumelnd auf den wundesten Punkt meines Entsetzens zu. In mir war jedes Gefühl erloschen, taub geworden; statt eines schlagenden Herzens spürte ich in meiner Brust nur eine widernatürliche Leere, die eine ganze Welt erdrückte. Wenn ich überhaupt eine Regung empfand, die der würgenden Kälte in mir trotzte und meinen Körper aufrecht hielt, dann war es die kleine Flamme eines Aufbegehrens gegen etwas Abscheuliches. Und nur ein einziger Gedanke jagte sengend durch meinen Willen, brannte sich durch alle Hüllen meines Selbstverständnisses - "Was er ihr tut, das tut er mir, was er ihr tut, das tut er mir".

Als ich wieder zur Besinnung kam und Hauptmann Mustafa langgestreckt auf dem Boden erkannte, war der Kolben meines Gewehrs rot vom Blut seines aufgeplatzten Schädels. Ich weiß nicht, wie oft ich zugeschlagen hatte, weiß kaum noch, dass mich die Soldaten niederknüppelten und wegtrugen.

Nein, ich bereue nichts. Wenn das Gewissen in mir aufheult, zuweilen, wenn ich an diese Nacht zurückdenke, dann, weil ich nicht rechtzeitig eingegriffen habe. Es tut mir um das Leid, das diese Frau erdulden musste, weh.

1. Juni 2021


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