Schattenblick →INFOPOOL →UNTERHALTUNG → SPUCKNAPF

SCHLUCKAUF/0056: Gefährliche Zivilisatiologie? - Nachtisch & Satire (SB)



Warum ist Zivilisatiologie als Geisteswissenschaft immer noch nicht anerkannt? Ihr Gegenstand, die Erforschung menschlicher Zivilisationen, deren Methoden, Begleiterscheinungen und Folgen sowie deren kritischer Vergleich mit anderen menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten müßte doch gerade in westlichen Industriestaaten durchaus von Interesse sein. Hanno Dunnich, emeritierter Professor für Geschichte und Zivilisatiologe aus Leidenschaft, weiß auf diese Frage gleich mehrere Antworten. Eine davon hat er dankenswerterweise für den SCHLUCKAUF als Essay zu Papier gebracht:


*


Gefährliche Zivilisatiologie?
Ein Essay von Hanno Dunnich

Wer sich gezielt mit den Erscheinungsformen menschlicher Zivilisationen beschäftigt, stößt schneller als in jeder anderen Fachdisziplin auf die unliebsame Frage, ob die exorbitante Destruktivität der zivilisatorischen Lebensweisen nicht deren vermeintlichen Nutzen um ein Vielfaches übersteigt. Bereits die kritische Bearbeitung von Themenkomplexen wie der Seßhaftmachung nomadischer Völker oder der Entwicklung abstrakter Administrationshilfen wie Schrift und Zahlen kann bei Studenten ein so grundsätzliches Unbehagen hinsichtlich der eigenen Lebensweise generieren, daß die Folgen gerade auch in politischer Hinsicht völlig unabsehbar wären.

Aus dem letztgenannten Themenkreis, dem der Administrationshilfen, sei zur kurzen Veranschaulichung des Forschungsgegenstands der Zivilisatiologie jeweils ein Aspekt der Kulturtechniken "Lesen" und "Schreiben" kurz angerissen. Der frühzeitige, stetige Umgang mit diesen zivilisationstragenden Fertigkeiten hat viele Menschen, die sie praktizieren, für ihre entfremdende, souveränitätsvernichtende Wirkung unsensibel gemacht. Schon aus diesem Grund wird die Tatsache, daß Lesen und Schreiben längst erfolgreich als Anpassungs- und Disziplinierungswerkzeuge eingesetzt werden, auf akademischem Niveau höchstens hinter vorgehaltener Hand diskutiert. Kinder so früh wie möglich an sie heranzuführen, gilt weitgehend unhinterfragt als der Gesamtentwicklung förderlich und nicht (was keineswegs dasselbe ist) als subtiler, doch hocheffizienter Drill für ein Leben innerhalb moderner Zivilisationsstrukturen.

Auf welche Weise durch das Lesen und Schreiben der Praktizierende dauerhaft in seinen Kontaktmöglichkeiten mit der Umgebung EINGESCHRÄNKT und in seinem inneren motorischen Zusammenhang GEBROCHEN wird, sollen die beiden folgenden Beispiele zumindestens kurz andeuten. Bei den Konditionierungen, um die es dabei geht, liegt das Hauptaugenmerk des Zivilisatiologen stets auf den motorischen Zusammenhängen, nicht auf den psychologischen.

Lesen - das EINSCHRÄNKEN auf Konturen

Voraussetzung für das Erkennen von Schriftzeichen (Lesen) ist eine anhaltende Fokussierung des Blickes, die allgemein-indifferent als Konzentration bezeichnet wird. Tatsächlich führt der Lesende kontinuierlich eine GESAMTKÖRPERBEWEGUNG aus, die nicht nur während des Lesens die Augen auf die Buchstaben und die betrachteten Buchstaben auf deren Umriß reduziert, sondern als unbemerkt anhaltender Nebeneffekt auch beim Sichtkontakt mit der Alltagsumgebung dem Konturenhaften eine selektive Ausdruckskraft verschafft. Durch dieses gewohnheitsmäßige Umrißfokussieren, und damit die gesamtmotorische Beschränkung der Weltsicht, gehen dem Lesenden wichtige, außerhalb eines Fokus liegende Sichtkontaktflächen verloren. Der Lesende isoliert sich mit der Zeit gewissermaßen selbst, er entfremdet sich seiner Umgebung, wird unsicher, verliert an Souveränität und Rückhalt - und wird dadurch angreifbarer für Manipulationen aller Art.

Schreiben - Das BRECHEN der Verbindung

Vor allem die ungebrochene Verbindung zwischen Gemütsverfassung und Hand ist es, die viele alte Höhlenmalereien so ungemein lebendig und ausdrucksstark macht. Beim Schreiben von Buchstaben hingegen geht es nicht primär um den lebendigen, kreativen Ausdruck (dafür wäre die Malerei vermutlich besser geeignet), sondern um Archivierungs- und Verwaltungsbelange. Die unmittelbaren Empfindungen des Schreibers müssen hinter die Buchstaben zurücktreten. Um dies zu erreichen, also eine möglichst "saubere", normgetreue Schrift, darf, bewegungstechnisch ausgedrückt, der Stift auf keinen Fall "aus dem Bauch heraus" geführt werden. Vielmehr muß der Schreibende lernen, seine Handbewegung im Handgelenksbereich in ein eher gegenläufiges Verhältnis zur Gesamtbewegung zu bringen. Dazu wird er nicht direkt angehalten, aber die regulär hohe Schreibgeschwindigkeit zwingt ihm diese motorische Anpassungsleistung auf. Wie beim Lesen wirkt sich das "Erlernte" als Bewegungsgewohnheit bald auf sämtliche alltäglichen HANDhabungen des Schreibkundigen aus. Es wird ihm zunehmend schwerer fallen, handgreiflich mit seiner Umgebung direkt Kontakt aufzunehmen. Der motorische Bruch verhindert dies. Die eigene Hand ist ihm entfremdet und zwischen Entfremdung und Fremdbestimmung liegt jeweils nur ein kurzer Schritt.

Wen bereits nach diesen wenigen Andeutungen zum Thema der Zivilisierung des Menschen durch Schreib- und Lesekonditionierung eingedenk der eigenen Schulbildung ein leises Unbehagen beschleicht, der hat damit schon eine der möglichen Antworten auf die eingangs gestellte Frage, weshalb die Zivilisatiologie noch keine anerkannte Wissenschaft ist - und absehbar auch nicht sein wird.


*


Soweit das Essay von Hanno Dunnich. Dem besorgten Leser möchte der SCHLUCKAUF zur Beruhigung mitteilen, daß laut UNESCO 16 Prozent der erwachsenen Weltbevölkerung Analphabeten sind. Noch.

21. April 2010