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BERICHT/162: Türkei - "Grundsätzlich anders", Atheisten kämpfen um Respekt und Anerkennung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 26. Juni 2014

Türkei: 'Grundsätzlich anders' - Atheisten kämpfen um Respekt und Anerkennung

von Nick Ashdown


Bild: © Nick Ashdown/IPS

Tolga Inci, Mitbegründer und Interimsvorsitzender der türkischen Atheistenvereinigung, vor dem Büro der Organisation in Istanbul
Bild: © Nick Ashdown/IPS

Istanbul, 26. Juni (IPS) - "Atheist zu sein, ist in der Türkei keine Kleinigkeit", meint Sinem Köroğlu von der Atheismusvereinigung, der ersten offiziellen Organisation für Atheisten, in dem islamisch dominierten Land. "Und unter der derzeitigen Regierung ist es noch schwieriger", fügt sie hinzu.

Erklärtes Ziel der in diesem Jahr in Istanbul gegründeten Gruppe ist es, Nicht-Gläubigen in der Türkei eine Stimme zu geben und sie zu unterstützen - ein ehrgeiziges Vorhaben in einem Land, das bekannt dafür ist, für Atheisten wenig übrig zu haben.

Politiker der religiös konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) äußern sich häufig abfällig über Atheisten. Im letzten Jahr verbreitete Mahmud Macit, ein hochrangiges Parteimitglied, via Twitter, "dass die rückgratlosen Psychopathen, die vorgeben, Atheisten zu sein, vernichtet werden sollten". Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wiederum ließ sich unlängst dazu hinreißen, Demonstranten als "Atheisten und Terroristen" zu beschimpfen.

"Das ist erniedrigend", meint Köroğlu im Büro der Organisation im kosmopolitischen Istanbuler Stadtteil Kadıköy. "Die kritische Auseinandersetzung mit der Religion darf kein Verbrechen sein." Doch die Äußerungen der Politiker spiegelten die Ansichten der türkischen Gesellschaft, "und das müssen wir ändern".

Wie aus einer 2011 veröffentlichten Umfrage der Istanbuler Bahçeşehir-Universität hervorgeht, hätten 64 Prozent der Befragten ein Problem damit, Tür an Tür mit einem Atheisten zu leben. 72 Prozent der Befragten gaben an, keinen Nachbarn zu wollen, der Alkohol trinke. 67 Prozent erklärten, ungern mit einem unverheirateten Paar Wand an Wand zu leben.

Wie der türkische Schriftsteller Mustafa Akyol erklärt, der sich für eine tolerante Form des Islams einsetzt, werden Atheisten in seinem Land als "grundsätzlich anders" wahrgenommen. "Im öffentlichen Bewusstsein, vor allem unter den Konservativen, gelten sie als unmoralisch und schmutzig. Alles was negativ ist, bringt man mit ihnen in Verbindung."

Derartige Vorurteile sind gefährlich. Barbaros Şansal ist nicht nur ein bekannter Modedesigner und Aktivist, sondern auch ein bekennender Atheist. "Ich erhalte jede Menge Drohungen", erzählt er. "Man würde mich, weil ich Atheist bin, am liebsten töten, foltern oder außer Landes schaffen." Soviel Hass kann ist nach Ansicht der Atheismusvereinigung nicht wirklich überraschend. "Ich nehme derartige Entgleisungen nicht allzu ernst", sagt dazu Tolga Inci, Mitbegründer und Interimsvorsitzender der Gruppe.

Die feindliche Haltung erklärt sich Akyol zufolge nicht zuletzt mit der Art und Weise, wie Atheisten in den konservativ-religiösen Medien abgeurteilt werden. "Wir werden verteufelt und als unmoralisch und wertlos beschimpft", berichtet er.

Wie Inci berichtet, wurde auch die Atheismusorganisation in Zeitungen wie 'Haber Vaktim' und 'Milli Gazete' von religiösen Führern niedergemacht. "Man warf uns vor, den Atheismus verbreiten und einen Religionskrieg lostreten zu wollen", sagt er kopfschüttelnd. Die Anschuldigungen seien absurd. "Wir haben nicht vor, irgendjemanden um seine religiöse Überzeugung zu bringen. Uns geht es lediglich darum, andere Atheisten zu schützen und das Bewusstsein zu schaffen, dass auch wir Menschen sind."

Inci beobachtet in der Türkei seit einiger Zeit eine Zunahme der religiösen Diskriminierung, die er mit dem Aufstieg der AKP in Verbindung bringt. Doch seiner Meinung nach verschlechtert sich die Lage immer mehr. "Dass die AKP ständig über Religion spricht, beunruhigt nicht nur uns Atheisten, sondern auch weniger islamgläubige Menschen und die religiösen Minderheiten." Die Türkei war 1923 als streng säkularer Staat gegründet worden. Von diesem Kurs weicht das Land immer weiter ab. "Wir wollen unseren Säkularismus zurück", fordert Inci.

In der Türkei sind 99,8 Prozent aller 74 Millionen Einwohner Muslime, von denen wiederum 80 bis 85 Prozent Sunniten sind. Die Gemeinschaft der Alawiten, ein weniger strikt religiöser Ableger des schiitischen Islams, zählt zehn Millionen bis 15 Millionen Mitglieder. Die Restbevölkerung besteht aus einer kleinen Zahl von Christen, Juden und Atheisten.

Eine Umfrage des Eurobarometers hatte 2005 ergeben, dass 95 Prozent aller Türken an Gott glauben, ein Jahr später erklärten 69 Prozent der Befragten gegenüber dem internationalen Pew-Forschungszentrum, dass Religion "sehr wichtig" sei.

In den türkischen Schulen ist Religionsunterricht, der sich fast vollständig auf den sunnitischen Islam konzentriert, Pflichtfach. Ebenso ist die Angabe der religiösen Zugehörigkeit in türkischen Personalausweisen obligatorisch, wobei Atheismus keine Option darstellt. Die staatlichen Bestattungsinstitute sind ausschließlich für islamische Begräbnisse zuständig, Verbrennungen im Islam verboten. Es gibt aber viele Atheisten, die nicht auf islamischen Friedhöfen bestattet werden wollen.

Die riesige Regierungsbehörde 'Diyanet', die für religiöse Angelegenheiten zuständig ist, fördert lediglich den sunnitischen Islam. Seit dem Machtantritt der AKP 2012 hat sich ihr Budget mehr als verfünffacht. Die Zahl der Mitarbeiter hat sich von 74.000 auf 141.000 nahezu verdoppelt.

Die Regierung hat Gesetze verabschiedet, die wegen ihrer religiösen Dimension auf Kritik stoßen. Dazu zählt das Gesetz zur Einschränkung des Alkoholhandels, das Erdoğan als religiöses Gebot bezeichnet hatte.


"Kritik darf kein Verbrechen sein."

Das derzeitige Gesetz 216 gegen Hassreden verbietet die Verunglimpfung religiöser Werte. Es wurde jedoch auch zur Verfolgung prominenter Persönlichkeiten wie dem international anerkannten Pianisten und Komponisten Fazıl Say und dem Linguisten und Autor Sevan Nişanyan missbraucht. Beide Kulturschaffende wurden wegen angeblich islamfeindlicher Äußerungen strafrechtlich verfolgt.

"Das Gesetz halte ich für äußerst fragwürdig", betont Inci. "Es ist wie ein Gummiband. Es lässt sich in alle möglichen Richtungen ziehen. Möglicherweise reicht es schon aus, sich als Atheist zu outen, um gegen die religiösen Werte zu verstoßen."

Akyol ist zwar der Meinung, dass das Gesetz 216 eine wichtige Waffe im Kampf gegen Hassreden darstellt, doch sollte es nicht verwendet werde, um kritische Stimmen wie Say und Nişanyan mundtot zu machen. "Die kritische Auseinandersetzung mit der Religion darf kein Verbrechen sein."

Akyol, selbst ein glühender Moslem, betont, dass in der Geschichte des Islam Nicht-Muslime akzeptiert wurden. Als Beispiel führt er die Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten an, die im Ottomanischen Reich praktiziert wurde. Es gebe noch immer viele junge muslimische Intellektuelle, die Atheisten nicht dämonisierten und bereit seien, sich in einem konstruktiven Dialog zu engagieren.

Akyol ist überzeugt, dass der Atheismusvereinigung eine wichtige Rolle zukommt, um einen solchen Dialog zu stärken. "Ich stehe hinter ihrem [atheistischen] Existenzrecht", meint er. "Es ist gut, dass es sie gibt. Das sie von den Muslimen wahrgenommen werden, führt möglicherweise dazu, miteinander ins Gespräch zu kommen."

In der Zwischenzeit plant die Gruppe, all denjenigen einen kostenlosen Rechtsbeistand zu ermöglichen, die der Blasphemie angeklagt werden. Außerdem sollen in der Türkei Seminare und Untersuchungen zu religiösen Fragen organisiert werden. Ferner setzen sich die Atheisten dafür ein, dass Religion an den Schulen zu einem Wahlfach wird, dass die staatlichen Bestattungsangebote auch für Nicht-Muslime gelten und Krematorien eröffnet werden. (Ende/IPS/kb/2014)


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http://www.ipsnews.net/2014/06/atheists-the-ultimate-other-in-turkey/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juni 2014